Zu nah am Feuer

Weil es so schön ist und weil es dank YouTube geht, stelle ich hier in loser Reihenfolge meine Lieblings-Vollplaybackvideos aus deutschen 80er-Jahre-Musiksendungen vor. Selbstverständlich in viiiiiiel zu langen Einträgen. Also bitte nur lesen, wenn man Lebenszeit übrig hat. An der roten Ampel beispielsweise oder beim Zuparken einer Rettungsgasse. Wer sein Handy nur in die Hand genommen hat, weil er eine zehnsekündige Busfahrt nicht erträgt, ohne sein Facebookprofil zu checken, kann gleich zum nächsten Essensfoto oder Urlaubsselfie weiterscrollen. So!
Ich beginne meine Ausführungen mit „Zu nah am Feuer“. Eine Ballade, die Fragen aufwirft. Sie kochte 1984 mein 13jähriges unschuldiges Hirn weich, und zwar rund um die Uhr auf allen Radiosendern. Also allen beiden, nämlich NDR 2 und HR 3. Diese zwei dudelten morgens und nachmittags aus unserem Küchenradio in Sangerhausen im Bezirk Halle in der DDR. Hätten wir damals, im Jahr 1984, doch nur etwas mehr DDR-Radio gehört. Oder überhaupt mal DDR-Radio. Dann wäre ich nicht von diesem Song belästigt worden. Andererseits hätte ich nun auch nicht auf dieses Kleinod aus dem archivierten Westfernsehen hinweisen können. Also: der heute zu Recht oder zu Unrecht – aber auf jeden Fall (außer von mir) vergessene Stefan Waggershausen hatte mal drei Hits. Einer war „Zu nah am Feuer“. Diese seltsame Ballade sang der gute Mann 1984 zusammen mit der rasend schönen italienischen Sängerin und Komponistin Alice. Die einen fragen sich, wie dieser Inhaber eines ausdrucksarmen Dauerstudenten-Gesichtes überhaupt an die rattenscharfe Alice rangekommen ist. Die anderen fragen sich, mit welcher Körperöffnung Waggershausen überhaupt „singt“ beziehungsweise „raunt“ beziehungsweise „ausatmet“. Nörgeln tut er nicht, die Stelle des Nörgelsängers hielt 1984 schon Herbert Grönemeyer besetzt. Und tut das bis heute. Wir wollen uns nun dem Auftritt von Waggershausen und Alice im „wwf-Club“ nähern. Das war eine TV-Sendung im Vorabendprogramm des WDR, von deren Existenz ich erst nach dem Ende der DDR erfuhr, da wir in unserer kleinen Kuhle im östlichen Südharz kein WDR-Fernsehen empfangen konnten. Lediglich ARD, ZDF und die beiden uns niemals belügenden Fernsehsender des eigenen Staatsapparates. Und das auch nur täglich erst ab 16 Uhr. Nicht vormittags, nicht morgens, nur spätnachmittags und abends. Dazwischen: Nichts! Der pure Horror, selbst erlebt! Kann man gar nicht oft genug sagen. Aber zurück zum Thema: der Auftritt der beiden ist ein wunderbares Lehrbeispiel dafür, wie man auf der Bühne agieren soll, wenn Musik und Gesang vom Band kommen. Nämlich so, dass sogar die taube und blinde Großmutter hinterm Küchenofen merkt, dass bei diesem Auftritt nicht nur etwas faul ist, sondern alles. Doch beginnen wir mit der Band: schon eine Sekunde nach Start der Kassette mit dem Vollplayback merkt der Keyboarder, dass er hier ist, um zu arbeiten. Pflichtbewusst drückt er also zwei oder drei Tasten auf seiner Jugendlichenorgel. Das ist schön, aber man hört es nicht, da das Intro des bedeutungsschwangeren Anbaggerliedes von drei bis sieben brünftigen Gitarrenspuren zugekleistert wird. Als nächstes schwenkt der Kameramensch zum Schlagzeuger. Der Zuschauer weiß nicht, ob dieser Kriegsdienstverweigerer mit den schulterlangen Zotteln tatsächlich Schlagzeug spielt oder doch nur Xylophon übt, denn das Schlagzeug ist lediglich zu erahnen. Zweimal zuckt kurz ein Stock in die Höhe und das Instrument wackelt, obwohl es nicht geschlagen wurde, ja nicht einmal gestreichelt. Ein Rätsel. Doch der Schwenk geht weiter. Kurz kommt ein bärtiger Musiklehrertyp mit vorgeschnalltem Gitarrenhals ins Bild, der zynisch in die Kamera grinst – wohl um seine Schüler zu erschrecken. Er trägt Walkman-Kopfhörer. Vermutlich hört er damit gerade andere Musik, Klaus Lage vielleicht oder einen anderen sinnesverwandten Bartbesitzer. Doch nun folgt eine Überblendung und wir sehen, wie ein Vorhang eine gekachelte Bühne freigibt, die aussieht wie der Duschraum eines Pionierferienlagers. Darauf steht etwas, das die meisten vom Kreisverkehr ihrer Kleinstadt kennen: seltsame Kunst. Was ist das? Zusammengeklebte Kartons? Styropor? Plaste und Elaste aus Schkopau? Und was soll das? Steht das für die im Lied („Zu nah am Feuer“) besungene Gefühlsverirrung nach einer durchgesoffenen Nacht in einer westdeutschen Industriemetropole? Oder sehen so ordentlich gestapelte Styroporblöcke aus, wenn sie kurze Zeit „Zu nah am Feuer“ standen? Und warum liegt da ein durchsichtiger Sitzball rum? Symbolisiert das frei schwebende Ding den „Feierabend des Waschmaschinendesigners“? Wie auch immer. Der Gesang setzt ein. Man hört es, aber man sieht es nicht. Stefan „Der Haucher“ Waggershausen steht meilenweit von der Kamera entfernt, eine Hand in der Jackentasche. Mit der anderen hält er das Mikro. Und zwar exakt so, wie man auf einer Küchenfete ein Kölschglas hält, aus dem man schon seit einer halben Stunde trinken möchte, wozu man aber nicht kommt, weil man wie bekloppt auf die einzige Frau einredet, die ohne Freund auf die Fete gekommen ist. Man kennt das. Dieser durch nachlässige Benutzung viel zu weit vom seiner Gesangsluke (Mund) entfernte Schlagergesäuseleinsauger (Mikro) sagt uns: der Sänger weiß genau, was er tut. Nämlich den rechtschaffenden Zuschauer verulken. Das nun folgende CloseUp setzt die geschürzten Lippen des Gesangsausatmers ins Bild. Nun wird es überraschend. Alice erscheint. Sie hat sich die ganze Sendung über hinter einem großen weißen B versteckt und darf jetzt rauskommen. Sogar der öffentlich-rechtliche Beamte am Scheinwerfer wacht bereits eine Sekunde nach ihrem Gesangseinsatz auf und reißt die Flakfunzel zu ihrer Bühnenposition rüber, so dass aus dem Schatten, der soeben aus dem B glitt, tatsächlich die unfassbare Alice wird. Sie weiß genau, wo die Kamera steht und versucht augenblicklich, deren Linse mit der Kraft ihres glutheißen italienischen Blickes zum Schmelzen zu bringen. Und den Fernsehzuschauer zum zitternden Geständnis eines Verbrechens. Denn wann immer Alice den Blick auf einen richtet: man fühlt sich augenblicklich schuldig. Man ist sich nicht sicher, was man verbrochen hat (Seitensprung? Bonbondiebstahl? Steuerhinterziehung?), man ahnt nur: irgendwas war‘s mit Sicherheit. Sonst würde sie einen nicht so streng angucken. Und man möchte augenblicklich von ihr, und nur von ihr, zur Rechenschaft gezogen werden. Aber weiter im Lied. Der Text interessiert hier nicht weiter. Auch wenn man verstehen würde, was die beiden da singen, würde man es nicht verstehen. Interessant ist, dass jedes einzelne Augenbrauenhärchen von Alice mehr Bühnenpräsenz hat als ein ganzer Stefan Waggershausen. Der gleichermaßen gefühlsverwirrte wie nackensteife Gesangsteutone steht auf der kalt verkachelten Bühne, als wäre er ein Angeklagter in einem Kriegsverbrechertribunal. Während die heißblütige Lady aus dem Süden ratlos an ihm rumschmachtet, versucht Waggershausen, diese emotionsreduzierte Salzsäule, Teil der Bühnendeko zu werden. Und als ob das nicht schon komisch genug wäre, kommt nun noch das typische 80er-Jahre Saxophonsolo. Im kalten Krieg ging nichts ohne Saxophon. Weder Matratzenreklame noch Wetterbericht – wer Erfolg haben wollte, musste ein Pornosaxophon aufbieten. Nachdem bei Minute 2:53 kurz nochmal die nichtsnutzige, untätig in der Ecke rumstehende Beamtenband des WDR das Gesamtbild verunstaltet, krabbelt auf der Bühne der weiß gekleidete Saxophonist aus seinem weißen Plastikversteck. Und dieser Mensch ist ein Prachtexemplar der Vollplaybackkunst. Er bewegt sich nicht nur wie ein Sexfilmvorturner, er sieht auch wie einer aus. Seine Frisur und sein Schnauzbaut bilden zusammen mit dem Saxophon eine unzertrennliche Einheit. Hier haben Blasinstrument und Instrumentenbläser zueinander gefunden. Dieser dichte, schöne und dennoch schlanke und windschnittige Schnauzbart (vulgo: Rotzbremse, Schenkelbürste, Nasenrasen) würde auf jeder Taxifahrercompetition Jury- und Publikumspreis gewinnen. Traurigerweise sind während seines engagiert vorgegaukelten Pustesolos die beiden Sänger nicht zu sehen. Und man fragt sich neugierig: Was machen die gerade? Gnubbeln sie aneinander rum? Stehen sie nichtsnutzig in der Ecke? Täuschen sie Tanzbewegungen vor? Man wusste ja damals nicht, was man tun soll, wenn mal nichts los war. Heute würde man schnell checken, ob es was Neues auf WhatsApp gibt. Oder ein Selfie posten. Oder eins von Pamela Reif mit einem Emoji liken. Oder Schuhe bei Zalando bestellen. Hauptsache man langweilt sich nicht. Aber was zum Henker haben Stefan Waggershausen und Alice getan, als das Saxophon spielte? Wir werden es nie erfahren. Nur die Fernsehzuschauer, die Kameraleute, die stinkfaule Studioband und die beiden Interpreten selber kennen das große Geheimnis. Nur diese Leute wissen vermutlich auch, warum Stefan Waggershausen nach dem Saxophonsolo plötzlich auf Italienisch irgendwas von Torpedos singt. Und ob die bildhübsche, wie immer blendend frisierte Alice ihn überhaupt versteht. Und ob sie überhaupt weiß, was für einen Käse sie da trällern muss? Und überhaupt: ist ihr Mitwirken in dem seltsamen Song eine Art Bringschuld des auch damals schon chronisch klammen, seit Ewigkeiten fragwürdig regierten und mafiaverseuchten EG-Mitglieds Italien an den Zahlmeister BRD? Viele Fragen, keine Antworten. Nur ein verstörendes Video aus dem Jahre 1984.
Viel Spaß damit:
https://www.youtube.com/watch?v=pF3J5JesV60

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