Fernsehen aus der Zeitmaschine

Thomas Gottschalk hat eine, nun ja, neue Show auf RTL. Sie heißt „Mensch Gottschalk“, kam (zum zweiten Mal nach der ersten Ausgabe im letzten Jahr) am Sonntag, dem 28. Mai um 20.15 Uhr und dauerte drei Stunden. Eine Woche zuvor sendete RTL auf diesem Sendeplatz eine Show mit Thomas Gottschalk. Nicht lange davor lief auf Sat.1 am Sonntag eine Show mit Thomas Gottschalk. Drei Ausgaben lang. Die drei verschiedenen Formate auf zwei verschiedenen Sendern am hinterletzten Tag der Woche hatten unterschiedliche Inhalte. Nämlich Thomas Gottschalk und kleine Kinder, Thomas Gottschalk und Günther Jauch feat. Barbara Schöneberger und Thomas Gottschalk mit irgendwelchen Prominenten und Helene Fischer. Alle drei Formate hatten eins gemeinsam: eine ziemlich miserable Einschaltquote – gemessen an der Strahlkraft, die der Moderator und TV-Mittelpunkt einst besaß. Richtig: besaß. Doch nun ist diese Strahlkraft stark gedimmt. In den späten 80ern und den frühen 90ern bis hin zum zweiten Drittel des Techno-Pleistozäns war ich Gottschalk-Fan. Ich guckte Wetten Dass – aber nur als VHS-Aufzeichnung bei einem Freund mit Recorder, damit ich bei den doofen Wetten und den meisten Musikgästen immer vorspulen konnte. Ich wollte lediglich sehen, welche Sprüche Gottschalk wieder raushaut. Mit welcher Rotzigkeit er Leinwandgötter aus Hollywood anmacht oder Sportler oder Politiker oder Sänger oder sonstige Clowns, die auf dem Sofa irgendeiner Mehrzweckhalle irgendeiner mittelgroßen Stadt Volksnähe probten und Lockerheit simulierten, in der zwei Tage nach der Fernsehshow wieder eine Kaninchenmesse stattfinden würde. Gottschalks Plappermaul lockte mich auch vor die Glotze, als er eine wöchentliche Show auf RTL bekam, sie wurde Anfang der 90er auf RTL gesendet. Weil wohl die Quoten mangels Sendervielfalt damals akzeptabel schienen, machte RTL, der damals erfolgreichste Privatsender Nachwendedeutschlands, aus dieser wöchentlichen Sendung eine tägliche: „Gottschalk Late Night“. Die guckte ich dann nicht mehr, weil ich wochentags beruflich früh raus musste (halb sechs!). Wegen seines Wechsels zu RTL nahm das ZDF Gottschalk die Moderation von Wetten Dass weg. Damals existierte noch eine innerdeutsche Grenze zwischen öffentlich-rechtlichem Fernsehen und Privatfernsehen. Man wusste, welcher Star (Kai Pflaume) wo moderierte (Sat.1) und welcher Sender welche Inhalte sendete. Man wusste, wo der Quatsch lief und wo der Anspruch einlud. Das ist lange her. Heute kann man beispielsweise das Erste nur noch am Logo oben in der Bildschirmecke erkennen, aber nicht mehr an den Moderatoren (Kai Pflaume). Plötzlich geschah etwas Unerhörtes: Gottschalk kehrte zum ZDF zurück und blieb gleichzeitig bei RTL. Es kam damals einer Revolution gleich, einem Sturz der Monarchie, dass Gottschalk trotz seiner Late-Show auf RTL zum ZDF zurückkehrte. Der große Dampfer Wetten Dass war von einem inkompetenten Kapitän aus den fünf neuen Bundesländern gefährlich nahe an eine Sandbank manövriert worden. Kurz vorm Kentern tauschte man den Hänfling aus der Zone gegen einen weltläufigen Kapitän mit internationaler Hochseeerfahrung aus, der sich auf der Brücke sehr gut auskannte: Thomas Gottschalk. Der Mann war im goldenen Zeitalter des Privatfernsehens bei RTL zum Superstar gereift, er hatte mittlerweile absolute Narrenfreiheit. Er konnte also im ZDF Wetten Dass moderieren und direkt danach auf RTL (meistens als Aufzeichnung) seine Late-Night. Zeitgleich machte er auf Sat.1 Reklame für Gummibärchen. Seine Late-Night kam damals sogar Samstags. Ich erinnere mich daran, dass einmal beide Sendungen, also Wetten Dass und später die Late Night, live liefen. Und weil das noch nicht dreist genug war, machte Gottschalk sogar in der betreffenden Wetten Dass-Ausgabe Werbung dafür, nach dem Abspann umzuschalten und ihm auf RTL bei seiner anderen Sendung – wie gesagt ebenfalls live (ich glaube aus irgendeinem Mehrzweckpuff in Mannheim) – zuzuschauen. Sogar zwei Gäste aus Wetten Dass nahm er mit: Harald Juhnke und Lothar Matthäus. Jawoll, solcher unnützer Gedankenschrott liegt tief im Speicherplatz meines Hirns verborgen. Andere mögen sich an bestimmte Floskeln in Neujahrsansprachen oder Absätze in damals verabschiedeten Gesetzen erinnern, oder an Wahlergebnisse der Grünen – meine Welt waren Fernsehsendungen. Also bestimmte Fernsehsendungen. Also die mit Gottschalk. Er war ein Vorbild für mich. Ich wollte sein wie er. Darum kann ich es auch tolerieren, obgleich ich es nicht verstehe, wenn junge Leute heute sein wollen wie Mario Barth. Sie wollen das, weil sie mit ihm aufgewachsen sind und weil sie nichts anderes kennen. Aber zurück zum blonden Riesen. Das, was jetzt gerade auf RTL und kurz zuvor auf Sat.1 mit ihm geschah, ist bedauernswert, aber lässt sich nicht ändern. Gerade „Mensch Gottschalk“, wo ich zweimal reinzappte, zeigte mir, dass der Showzug auf freier Strecke stehengeblieben ist und nicht weiterfährt. Der einstmalige Strahlemann Gottschalk ist unglaubliche 67 Jahre alt. Seine Zeit waren die 60er, die 70er und 80er. Sowas hat jeder, bei mir sind es die 80er und 90er, deren Musik aus meiner Anlage blubbert und deren CDs (selbst gekauft, brennen gab‘s noch nicht) in meinem Regal stehen. Bei mir ist das musikalische Befinden allerdings Privatsache, ich störe damit niemanden. Außer vielleicht meine Frau. Bei Gottschalk ist es aber wie mit einem alten James Bond, wenn der plötzlich zur Primetime auf Pro Sieben liefe. Man sähe sofort, dass das vorn und hinten nicht stimmt, dass es nicht passt, dass es ruckelt, knistert und zwickt. Und knirscht. Und pappig und muffig schmeckt. Weil die Zeiten sich geändert haben. Man sieht es an der Attitüde, an den Frisuren, an den Getränken und an der Frequenz der Flachlegoptionen, die der Superagent damals hatte. Bei Gottschalk hört man es an den Formulierungen, die er verwendet. Und an den Verhedderungen. Etwa, wenn er versucht, aus einer Gesprächssimulation mit Carolin Kebekus über Gleichberechtigung (nicht sein Thema) die Brücke zu schlagen zur Band Aerosmith, deren zwei faltig-agile Chefs live auf einen Plausch im Studio vorbeikamen. Ganz am Ende dieses Auftritts führte Gottschalk dann auch auch dem letzten Zuschauer die Antiquiertheit des Konzepts seiner RTL-Show vor Augen. Kurz vor der Verabschiedung zeigte er den beiden darüber offensichtlich länger nachgrübelnden Bossen von Aerosmith auf der Leinwand hinter dem Sofa ein Standbild aus den Simpsons. Mit Aerosmith als Gästen. Jeder kennt die Simpsons. Also wirklich jeder. Außer vielleicht meine Mutter. Und jeder, der sie kennt, weiß, dass so ziemlich jedes Popkulturphänomen schon in den Simpsons behandelt wurde. Dazu zählen Schauspieler (die von sich selbst vertont werden), Lego-Steine (es gab mal eine komplette Folge aus Lego) und selbstverständlich auch Sänger oder Bands. Ich glaube, es gibt keine Band, die noch nicht in den Simpsons auftauchte. Ich glaube, alles was stattfindet, taucht in den Simpsons auf. Wer nicht in den Simpsons auftaucht, den gibt es schlicht nicht. Gottschalk trompetete trotz dieser Gewissheit den vollkommenen Blödsatz raus: „Wer in den Simpsons landet, der hat es geschafft.“ Und das war absoluter Quatsch. Stand aber leider sinnbildlich für die ganze Sendung und für alle anderen traurigen Versuche, mit dem einstigen Phänomen Gottschalk weiterhin Quote machen zu wollen. Der Mann ist fit und er twittert jetzt auch ganz lustig, aber er ist in seiner Zeit stehen geblieben. Er ist ein bewundernswerter Plauderer und  Stimmungsaufheller. Aber auch er ist, wie einfach alles heute, nur noch Nische. Kein Massenphänomen mehr. Das muss man akzeptieren. Seine große Zeit ist vorbei und wird nie wieder zurückkommen und sie ist vor allem im Fernsehen abgelaufen. Wo Gottschalk Sonntags versucht, die Zuschauer einzufangen, die – wie ich – zwischen dem Polizeiruf im Ersten und „Designated Survivor“ auf Netflix kurz mal nachschauen, was er da gerade treibt. Und nicht entsetzt, aber ein weiteres Mal ernüchtert feststellen: Das gleiche wie früher. Auf die gleiche Art und Weise wie immer. Nur eben heute, 30 Jahre später. Er kann nicht anders. Und das ist auch verständlich Nur funktioniert das leider ebenso schlecht wie das Einlegen einer CD in ein iPad. Was aber vermutlich niemanden davon abhalten wird, es weiter mit ihm zu versuchen. Es gibt ja noch viele andere Sender, die Sendezeit füllen müssen. Und es gibt viele andere Showstars, die Lebenszeit füllen müssen. Und die Hoffnung stirbt zuletzt. Einen langen, müden, schwachbrüstigen Tod.

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