Verzweiflung hat einen Namen: Altenburg

Gestern bin ich einfach mal so durch Altenburg in Thüringen gelaufen. Denn ich sehe mir gerne alte, kaputte Häuser an. Sie haben die klare Botschaft: „Nichts bleibt, wie es ist. Irgendwann hast auch du eine Vergangenheit, so jung du faltenfreier frecher Jungspund jetzt auch sein magst. Und diese Vergangenheit wird man dir ansehen. So wie mir jetzt. Du kommst da noch hin. Ich bin schon da, ich bin im Vorteil, haha!“ In Altenburg in Thüringen knallen einem das sehr viele Häuser an den Kopf. Mehr und eindrucksvoller als in anderen Orten. Wer einen Fetisch für naturgemachte Zerstörung hat und vielleicht praktischerweise nebenher noch praktizierender Goth ist, ist in Altenburg sowas von richtig. Mitten in der Stadt, gleich beim Bahnhof, stehen große Tropfsteinhöhlen mit Zwischenwänden, die mal herrschaftliche Villen waren. Vermutlich darf sie niemand mehr anfassen, da sie nun Fledermausreservate sind. Nicht erst seit gestern können Wind und Wetter mit diesen Häusern machen, was sie wollen. Seit zwei Jahrzehnten knuspern die Naturgewalten daran herum. Sie hauen Stücke aus dem Putz, feilen die Kanten der Ziegelsteine stumpf und säen Pflanzensamen in den vom Frost aufgesprengten Mörtel. Daraus wachsen dann Bäume, die bald schon Eigenbedarf für das Haus anmelden. Seit dem Versprechen der blühenden Landschaften geht das so. Helmut Kohl hatte Recht. Faszinierend ist der Gedanke, dass hier mal Menschen wohnten. Das ist angesichts der traurig vor sich hin erodierenden Gebäude nur eine vage Vermutung. Wo sind sie hin? Warum sind sie weg? Muss doch nicht sein, ist doch schön hier. Grün ist Altenburg, grüner als in der Bierreklame. Sehr hügelig und vor allem sehr schnuckelig. Aber auch sehr leer. Die Natur holt sich hier alles zurück, was nicht mehr bewohnt wird. Viele Menschen sind hier nicht unterwegs. Zu Fuß jedenfalls. In ihren Autos fahren sie hoch beschleunigt an mir vorbei. Sie wollen schnell hier durch oder schnell hier weg – ich weiß es doch auch nicht. Der Himmel ist grau, es regnet, und ich stehe in einer zerfallenden Innenstadt, die von der Lokalpolitik immer noch nicht aufgegeben wurde. Vermutlich aus Statistikgründen. Vermutlich, um den Untergang raus zu zögern. Altenburg wird gehalten! Die Häuserzeilen werden von den wenigen sehr intakten Gebäuden trotzig am Einsturz gehindert. Einige Menschen wohnen ja doch noch hier. Und kaufen im riesengroßen Edekamarkt ein. Dort registriere ich die unaufgesetzte Freundlichkeit der Angestellten. Sind sie zu jedem so freundlich oder nur zu mir, weil ich so nass vom Regen bin? Oder finde ich  das ungewöhnlich, weil ich in Berlin wohne? Schließlich darf man in der Hauptstadt der Rotzigkeit niemandem eine Sekunde zu lange ins Gesicht gucken, weil man sonst einen Schlag in die Fresse riskiert. Oder einen Sprung mit dem nackten Arsch in selbige. Und darum bin ich nicht nur dankbar, wenn mich jemand ohne Grund anlächelt. Ich möchte ihn sogar auf der Stelle heiraten. Oder sie. Oder es. Sehr freundlich sind die Leute in diesem Ort im traurigen Osten. Vielleicht, weil sie angesichts der Situation vor Ort Träume von einem besseren Leben haben? Träume, die sie von innen leuchten lassen? Ist nur eine Vermutung. Allerdings stelle ich auch bei meinen  Auftritten regelmäßig fest, dass die Stimmung in tristen, traurigen Orten sehr viel besser ist als in satten, wohlstandsverwöhnten Schimmercitys, wo die Leute in ihrem vielen Geld ersaufen. Und nun stehe ich hier im abrissfertigen Altenburg in diesem großen Lebensmittelmarkt mit diesen freundlichen Menschen. Vielleicht sind sie aber auch einfach nur normal. Vielleicht kenne ich kein normales Verhalten mehr, weil ich in Berlin wohne. Hier in Altenburg, in diesem Edeka, der wie ein blaugelbes Raumschiff auf einem verlassenen Planeten gelandet ist, sind alle jederzeit bereit, eines der unfassbar vielen unfassbar vollen Regale wieder mit Ware zu bestücken, falls ein Kunde irgendein Produkt daraus entfernen sollte. Was für ein Widerspruch: die Stadt ist leer, die Regale sind voll. Der monströse Markt ist ein begehbarer Messestand, der mit der geballten Versorgungsfähigkeit der deutschen und europäischen Nahrungsmittelindustrie rumprotzt. Für jeden Geschmack, jeden Futterspleen, für jede Allergie und für jede Verweigerungshaltung gegenüber Gluten, Laktose oder Zucker hält der Monstermarkt passendes Essen bereit. Und passendes Trinken. Auch die Hamburger Hipsterbrause Fritz Kola hat es mit ihrem breiten Portfolio hierher in die Thüringer Provinz geschafft. Sogar hierher. Ein sicheres Zeichen dafür, dass der Zenit des Wachstums auch bei diesem voll korrekten Trendgetränk sicher überschritten wurde. Denn wer soll das metrosexuelle Zuckerwasser hier trinken? Hier wohnt doch so gut wie keiner mehr. Wo denn auch? Ich hab doch gesehen, dass hier nichts ist. Oder war ich einfach in den falschen Straßen unterwegs? Drei Stunden lang? In denen es passenderweise durchregnete? Den zerfallenden Osten muss man sich einfach bei Regen anschauen, sonst stimmt das Bild nicht. Mit durchgeweichten Schuhen komme ich am überraschend vital wirkenden Bahnhofsgebäude an. Direkt gegenüber hängen die müden Rollläden des selbstverständlich geschlossenen und leer stehenden Hotels „Europäischer Hof“ auf Halbmast. So als wollten sie sich für den Besuch auf dem Friedhof bedanken. Auf dem Friedhof, dessen Hausartige Grabsteine mal von Menschen bevölkert waren. An die nichts mehr erinnert, nichts. Und dabei habe ich nur einen kleinen Teil des Elends gesehen. Für die komplette Innenstadt fehlte mir die Zeit. Im Bahnhof hockt auf dem inneren Sims eines der mächtigen Fenster ein Mann in erwerbsfähigem Alter. Er nimmt dann und wann entspannt und unaufgeregt einen mittelgroßen Schluck aus einer Flasche Peffi-Likör. Dieses grüne anti-isotonische Trinkergetränk hat uns DDR-Jugendliche in den 80ern fit fürs Erwachsenenleben im tristen Sozialismus gemacht. Uns hat der Alkohol ernüchtert, haha. Und jetzt sitzt hier ein Mann, in Altenburg, dieser verlassenen Stadt, im Bahnhof, und trinkt das Zeug. Er wirkt nicht so, als müsste er einen Zug kriegen. Er wirkt eher so, als wäre der letzte Zug für ihn abgefahren. Trotz seiner Leidenschaft für toxischen Säufersirup wirkt er gepflegt. Aus der Reisetasche, in die er seinen grünen Freund nach dem Trinken stellt, klingt Musik. Abba: „Summer Night City“. Regen, verlassene Häuser, zerfallende Bausubstanz und dann das – alles passt. Aber das Sahnehäubchen auf diesem stimmigen Bild verlässlicher Abbruchstimmung ist die Ausstellung, die das Altenburger Lindenau-Museum gerade zeigt: „Palmyra – zerstörte Erinnerung“

Wenn nicht hier, wo dann?

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