Gut und gerne leben – nur wo?

Frau Dr. M. ist ausgepfiffen worden. Und ausgebuht. Mal wieder Und nicht nur einmal, sie hat es sich gestern richtig gegeben. In zwei Orten nacheinander hat sie ein Bad im Shitstorm genommen. Zuerst in Torgau und für die Zugabe nochmal nebenan in Finsterwalde. Da, wo sich Aldi und McGeiz „Gute Nacht“ sagen. Überraschend wird das Getrillere für Frau Merkel nicht gewesen sein. Vermutlich hat sie sich darauf innerlich vorbereitet. Vielleicht ja auch mit Hilfe legaler Substanzen. Der Verkäufer der dafür nötigen großen Mengen Nerventonikums (oder Vollmilch-Nuss-Schokolade) ist jetzt ein reicher Mensch. Ich stelle mir vor, dabei gewesen zu sein. Als Einwohner von Torgau oder Finsterwalde. Der seit Jahren Rückbau und Sozialdämmerung inklusive Jugendflucht und Rollatorschwemme erlebt. Und allmählich das Bewusstsein herausbildet, insgesamt und landesweit sei alles sei nur noch schlimm schlimm schlimm. Weil er die tatsächlich vorhandenen Landesteile, in denen es läuft, nicht kennt. Und dann kommt dieses Wesen, das den ganz persönlichen Stillstand seit zwölf Jahren aus der Ferne verwaltet. Und dieses Wesen tritt unter dem Motto „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ auf dem Marktplatz auf. Dort, wo seit Jahren der Wochenmarkt aus immer weniger Buden besteht. Weil die Leute immer seltener auf dem Wochenmarkt einkaufen. Wo kein Weihnachtsmarkt mehr stattfindet, weil die Leute aus Geldgründen ihren Glühwein zuhause saufen. Genau dort steht jetzt eine riesige Bühne mit einer hochhausgroßen LED-Wand. Du hast noch nie in deinem Leben so eine leuchtende LED-Wand gesehen. Und schon gar nicht hier, in deinem tristen Ort. Ist das überhaupt eine LED-Wand? Oder ist das ein gerade gelandetes Ufo? Das Ding blendet richtig dolle. Was steht da drauf? „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“ Aha. ‚Welches soll das sein?‘, denkst du. Meins? Lebe ich hier gerne? Reicht mir mein netto, der mich mit billigen Schweinefleisch ruhigstellt, das billiger ist als mein billiges Bier? Und das beim Braten spritzend verschwindet, weil es ein Massenschnitzel ist, das nur aus Wasser besteht? Finde ich den mit Brettern verrammelten Bahnhof unseres Ortes toll, durch den mehr Züge durchrauschen als anhalten? Wo man sich nicht mal unterstellen kann, wenn es regnet? Finde ich das Kulturangebot unseres Ortes toll, das aus genau einer Tankstelle besteht? An der sich abends die wenigen Jugendlichen treffen, die zu verzagt sind, um wegzuziehen. In ein Deutschland, das vielleicht mit dem Slogan dort auf der LED-Wand gemeint sein könnte. Das muss das Deutschland sein, in dem die Leute leben, die so schlau waren, rechtzeitig aus meinem tristen Ort abzuhauen. Seitdem stimmt die Mischung nicht mehr. Seitdem gibt es keine Vorbilder mehr. Vielleicht ist aber auch ein Deutschland gemeint, dass derzeit als einzigen Ausweg aus dem Stillstand nur Straßenbau kennt. Der zu mehr Verkehr führt. Der wiederum mehr Verkehrstote fordert. Nein, ich habe nicht gegoogelt, ob hierzulande mehr Menschen durch Terrorismus sterben oder – dank einer vollkommen verfehlten Verkehrspolitik der Bundesregierung – unter LKWs begraben werden, die nahezu wöchentlich außerhalb jeder Kontrolle ins Stauende krachen. Brauch ich nicht googeln. Weiß ich auch so. Um diese gesellschaftlich akzeptierten Tode zu zählen, reicht ein Blick auf den Gruselnewsmix auf der GMX-Startseite. Darum fahre ich lieber mit dem Zug durch das „Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“. Durch Funklöcher, die so groß sind wie das Saarland. Das sind zwölftausend Fußballfelder. Was ungefähr 80mal der Fläche von Finsterwalde entspricht. Ohne Eingemeindungen. Und ich sehe aus dem Fenster ein Deutschland, das aus immer mehr in den Wald wuchernden Eigenheimsiedlungen besteht. Die gebaut werden von Leuten, die sich das Geld dafür offensichtlich locker leisten können. Andererseits sehe ich auf den großen Bahnhöfen, wo noch Züge halten, ältere, abgerissene Menschen. Sie sind auf Schatzsuche. Sie werden immer fündig. Acht Cent für eine Pflandflasche stellen für sie eine konkrete Summe dar. Dafür lohnt es sich, geschickt mit der im Jackenärmel verborgenen Taschenlampe in versiffte Papierkörbe zu leuchten. Flink, gekonnt und unauffällig. Wie scheue Tiere, die man wirklich nur erblickt, wenn man sich auf die Lauer legt. Haben diese Leute auch ein Deutschland, in dem sie „gut und gerne leben“? Ist es das Deutschland, das ruhig und unaufgeregt auf den demographischen Wandel zu trödelt? Der ja laut Alexander ‚Sascha‘ Gauland ein „angeblicher demographischer Wandel“ ist, wie er in der sehr sehenswerten „Fahrbereitschaft“ mit Jörg Thadeusz im rbb weltfremd sagte.
Was also hätte ich gemacht, wenn auf dem Marktplatz meiner öden Kleinstadt plötzlich dieses Wesen aus einer mir verschlossenen Welt steht? Und sagt, alles wäre gut? Vermutlich hätte ich interessiert dem organisierten und von heimlichen Helfern dirigierten Trillerpfeifkonzert gelauscht. Und ich hätte gestaunt, dass dieses Wesen da vorn auf der Bühne eines jedenfalls offenbar besser kann als andere: einstecken. Aushalten. Aussitzen. Und aushalten können die Leute in Finsterwalde ja auch. Und wenn man von diesem Aushalten mal was zurückgeben kann, ist wieder ein bisschen Druck aus dem Kessel.
Und falls man noch nicht gänzlich innerlich emigriert ist, hört man in den Nachrichten Schnipsel aus Weltgegenden, in denen die Menschen jederzeit und ohne groß zu überlegen die Tragödie, die ihr Leben ist, nur zu gern gegen das triste Dasein in Finsterwalde eintauschen würden. Wenn man sie ließe. Wenn ihr Leben hier einen Sinn hätte. Wenn es nicht bestünde aus: verordneter Langeweile, Arbeitsverboten, vorgegaukelter Hoffnungmache, willkürlicher Abschiebung, gesetzlicher Willkür, gesetzlicher Ohnmacht und einem selbstbetrügerischen „Wir schaffen das“. Aber das ist eine ganz, ganz, ganz andere Geschichte.
Nein, sie müssen das nicht kommentieren.
 
 
Dieser Text ist mangels Interesse frei von folgenden Zusätzen: Alice Weidel (Steuerflucht und Dominastudio), Zuwanderung (Helene Fischer) und Heiko Maas (Ach, ach, ach).

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