Angstangstangst

Am 19. Dezember 2016 ermordete eine gescheiterte Existenz namens Anis Amri – aktenkundig, drogensüchtig, kleinkriminell und ungesund religiös aufgeladen – mit einem geklauten LKW auf dem Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz mehrere Menschen. Trotzdem er überwacht wurde. Überwacht von Behörden, die schon mit Fahrraddiebstählen heillos überfordert sind. Am Tag darauf musste ich in derselben Stadt in einer Comedy-Show auftreten. Vorher zermarterte ich mir das Hirn. Kann und darf man jetzt lustig sein? Wie lustig überhaupt? Wird denn überhaupt jemand in die Show kommen? Sind die Menschen in der Realität auch so betroffen wie bei Twitter? Oder ist den Menschen hier in Berlin wieder mal alles egal? Antwort: der Laden war bumsvoll. Niemand war wegen Terrorgefahr zuhause geblieben. Die Stimmung: sehr ausgelassen. Nicht wenige Zuschauer waren weihnachtlich angemessen betrunken. Kurz vor Weihnachten erfreuen nämlich gern komplette Belegschaften mittelständischer Kleinunternehmen die Kabarettvorstellungen und Comedymixshows mit ihrer Anwesenheit. Weil der Chef die fantastische Idee hatte, seine Angestellten mit Kultur zu konfrontieren. Für die Angestellten heißt das: sie dürfen auf Kosten des Chefs so viel schlucken, wie reingeht. Und das kosten sie aus. Sie wollen es dem alten Kapitalistenschwein mal ordentlich heimzahlen. „Nich lang schnacken, Kopp in Nacken!“ Während der Chef die Sause mit den Angestellten schön von der Steuer absetzen kann, müssen alle anderen im Saal das in Alkohol gelöste Betriebsklima ausbaden. Denn betrunkene Arbeitnehmer tun im Kreis ihrer Kollegen besonders intensiv, was Betrunkene nun mal so tun: laut ihr Revier markieren. Sie müssen die Kollegen schließlich damit beeindrucken, zehnmal lustiger zu sein als der Rest der Belegschaft. Und hundertmal lustiger als alle andern Flachpfeifen im Saal. Die so dämlich waren und selber Eintritt bezahlt haben. Da sitzt dann schon mal die Belegschaft eines Schmiermittelvertriebs im Saal. Werbespruch: „Wo wir schmieren, quietscht nichts mehr!“ Oder eine komplette Kfz-Schlosserei. Handfeste Schwerathleten, die zum Frühstück Buletten mit Kunsthonig essen und sich die Zähne mit Hackfleisch putzen.
Und man spricht auf der Bühne gegen eine Wand aus Schlürfgeräuschen, gegrunzten Witzwiederholungen und Livekommentaren. Man ist dummerweise nüchtern. Man erlebt also das Desaster bei vollem Bewusstsein. Und man grübelt, für welches Verbrechen man hier gerade bestraft wird. Und die anderen Teile des Publikums leiden mit, solidarisieren sich aber nicht. Und die Sekretärinnen der Firma machen sich Notizen. Und der Chef lächelt.
Und am nächsten Tag liest man die Schlagzeile der BILD: „ANGST!“
Und man denkt sich: „Nein. Neinneinnein. Angst hat man vielleicht als dunkelhäutiger Mensch in Ostsachsen. Oder wenn man im Stauende steht und hinter einem wird ein LKW immer größer, aber nicht langsamer. Aber die Leute gestern hatten keine Angst. Die hatten Durst.“
Das alles ist jetzt ein Jahr her. Glücklicherweise hat sich bislang hierzulande so eine Terrorhorrorstory nicht wiederholt. Wenngleich solche Dinge von Leuten, die politisch und klickzahlentechnisch davon profitieren, immer wieder runtergebetet werden. Aber das Leben geht weiter. Mit all seinen Weihnachtsfeiern, Volksfesten und sonstigen Gründen, sich ordentlich die Kante zu geben. Ich für meinen Teil möchte nur hoffen, dass bei meinen letzten drei Auftritten in diesem Jahr nach Möglichkeit keine Betriebsweihnachtsfeiern im Saal hocken. Ich trete nämlich am liebsten immer noch vor Leuten auf, die freiwillig kommen. Und keine Angst haben. Wovor auch immer.

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